Du öffnest eine Flasche, gießt ein – und der Wein riecht plötzlich … seltsam. Verschlossen, streng, irgendwie „nicht fertig“. Ein paar Minuten später: ganz anders. Weicher. Offener. Aromatischer.
Aber warum ist das so? Warum profitieren manche Weine von Luft – und andere nicht?
Luft ist für Wein wie Kaffee am Morgen: In der richtigen Menge belebt sie, zu viel davon macht ihn müde.
Wenn Wein mit Sauerstoff in Kontakt kommt, passiert etwas Faszinierendes:
Aromen entfalten sich, weil flüchtige Duftstoffe aktiviert werden.
Tannine (Gerbstoffe) werden milder, was den Wein runder macht.
Und in manchen Fällen verfliegen störende Noten – z. B. Schwefel oder Reduktionsaromen.
Doch nicht jeder Wein mag Luft gleich gern. Manche blühen auf – andere kippen schneller als Cola ohne Deckel in der Sommer-Sonne.
Nicht jeder Wein schreit nach Sauerstoff. Hier die Faustregeln:
Junge Rotweine mit viel Tannin
Denkt an Cabernet Sauvignon, Blaufränkisch oder Syrah. Diese Weine haben viel Tannin und Struktur und sind oft kantig und wirken verschlossen. Ein paar Minuten im Dekanter helfen, sie runder, weicher und zugänglicher zu machen.
Komplexe Weine
Große Burgunder und andere gereifte Weißweine profitieren davon, wenn sie ein wenig atmen dürfen. Erst dann entwickelt sich ihr ganzes Aromenspektrum. Hier reicht es aber ein wenig Wein in ein Glas ein zu schenken und dieses zu schwenken.
Reife Weine mit leichter Reduktion
Manche Weine riechen Anfangs "verschlossen" oder leicht schwefelig. Das ist kein Fehler, sondern ein Hinweis auf eine reduktive Lagerung. Ein paar Minuten Luft wirken da wahre Wunder.
Sehr alte Weine - Hier ist Vorsicht geboten. Gereifte Weine sind oft fragil wie Porzellan. Zu viel Luft lässt sie schnell zusammenfallen. Statt dekantieren: vorsichtig einschenken und direkt genießen. Kleine Schlucke - große Momente!!
Leichte, frische Weißweine und Roses - Ein junger Riesling oder Sauvignon blanc lebt von Frische und Spritzigkeit. Zu viel Luft nimmt ihnen den Schwung.
Schaumweine - Luftkontakt bedeutet auch: Kohlensäure ade. Ein Sekt, der zu lange offen steht verliert nicht nur seine Bläschen, sondern auch seinen Charme.
Woher weiß ich aber wann der Wein genug geatmet hat? Der Wein "erzählt" es Euch. Sind die Aromen klar, offen und harmonisch? - Dann hat der Wein genug.
Keine Sorge: Ihr braucht keinen Kristalldekanter für 200 €. Oft reicht schon, den Wein ins Glas einzuschenken und ein paar Minuten zu schwenken. Das vergrößert die Oberfläche und bringt Sauerstoff ins Spiel.
Pragmatisch: Ein großer Wasserkrug funktioniert ebenfalls.
Minimalistisch: Manchmal reicht sogar, die Flasche zu öffnen und kurz stehen zu lassen – auch wenn das weniger effektiv ist.
Schon im 19. Jahrhundert dekantierte man Wein, aber nicht, um ihn „atmen zu lassen“. Der eigentliche Zweck war, den Bodensatz („Depot“) zu entfernen, der sich in alten Flaschen bildete. Der Sauerstoffeffekt kam erst später – quasi als angenehme Nebenwirkung.
Ob ein Wein Luft braucht, hängt von seinem Alter, seinem Stil und seinem Charakter ab. Junge, kräftige Rotweine gewinnen durch Sauerstoff – alte und feine Weine dagegen können darunter leiden. Am Ende gilt: Probieren geht über Studieren. Einschenken, ein wenig warten, und selbst erleben, wie der Wein sich im Glas verändert.
Tipp: Macht zu Hause den Test. Ein Glas sofort trinken, ein anderes 30 Minuten stehen lassen – und vergleichen. Ihr werdet überrascht sein, wie unterschiedlich derselbe Wein schmecken kann!