Hand aufs Herz: Wer das erste Mal von „Edelfäule“ hört, denkt vermutlich an etwas, das man lieber nicht im Glas haben möchte. Pilzbefall? Klingt nach Horrorfilm und weniger nach Genuss. Doch genau dieser Pilz – der Botrytis cinerea – sorgt für einige der edelsten und teuersten Süßweine der Welt. Zeit, das Geheimnis zu lüften, warum ausgerechnet Fäule hier ein Qualitätsmerkmal ist.
Die Edelfäule ist ein natürlicher Prozess, bei dem der Pilz Botrytis cinerea die Trauben befällt – allerdings nur unter ganz bestimmten Bedingungen.
Feuchtigkeit (meist Nebel am Morgen) sorgt dafür, dass der Pilz die Beerenhaut ansticht.
Sonne am Nachmittag trocknet die Beeren wieder ein.
Das Ergebnis: Die Trauben verlieren Wasser, die Aromen und der Zucker konzentrieren sich. Aus den unscheinbaren, schrumpeligen Beeren entsteht ein Most mit enormer Süße, intensiver Aromatik und einzigartigem Charakter.
Einige der berühmtesten Süßweine der Welt verdanken ihren Ruhm genau diesem Phänomen:
Sauternes (Bordeaux, Frankreich): Legendär, mit Aromen von Honig, Aprikosen und Karamell.
Trockenbeerenauslese (Deutschland & Österreich): Höchste Qualitätsstufe, extrem süß und komplex.
Tokaji Aszú (Ungarn): Der „König der Weine“, schon im Mittelalter ein Symbol von Luxus.
Diese Weine sind rar, da die Herstellung sehr aufwendig ist. Jede Beere muss oft per Hand gelesen werden – und das nur dann, wenn die Natur mitspielt.
Ganz einfach: Sie bringt Aromen hervor, die ohne sie nicht möglich wären. Edelfäule-Weine sind:
unglaublich aromatisch (Honig, getrocknete Früchte, Nüsse, Karamell),
sehr langlebig – viele Flaschen halten Jahrzehnte,
einzigartig im Geschmack, weil die Pilzwirkung jede Ernte anders prägt.
Und das Beste: Trotz hoher Süße wirken diese Weine oft erstaunlich frisch – dank einer lebendigen Säure, die die Balance hält.
Ja! Derselbe Pilz kann auch Grauschimmel verursachen, wenn das Wetter nicht mitspielt (z. B. zu viel Regen, zu wenig Sonne). Dann verfaulen die Beeren richtig – und das ist alles andere als edel. Edelfäule ist also ein Balanceakt: Ein paar Tage zu viel Regen, und aus edel wird schlicht unbrauchbar.
Der berühmteste Edelfäule-Wein, der Sauternes Château d’Yquem, hat Kultstatus. In Auktionen werden einzelne Jahrgänge für mehrere Tausend Euro verkauft. Kurios: Napoleon III. bestellte gleich 250 Kisten davon – vermutlich um seine Gäste niemals „trocken“ sitzen zu lassen.
Edelfäule klingt unappetitlich, ist aber ein Geschenk der Natur. Ohne sie gäbe es keine der großen Süßweine, die Weinliebhaber weltweit begeistern. Ja, die Beeren sehen beim Lesen aus wie vertrocknete Rosinen – aber genau darin liegt der Zauber.
Tipp: Falls ihr mal die Gelegenheit habt, probiert einen Trockenbeerenauslese oder einen Sauternes. Selbst kleine Schlucke reichen aus, um zu verstehen, warum man „Edelfäule“ hier fast liebevoll ausspricht.